Hungerjahre für die Stadtbevölkerung

Das Organisieren von Lebensmitteln war erniedrigend

aus: Karl A.Krug, Splitter, Angst und Hunger, Köln 2005

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Karl, 13 Jahre

Da sich die Ernährungslage nach Kriegsende immer weiter verschlechterte, war das Organisieren von Lebensmitteln wahrhaftig kein Kinderspiel.

Während ich das Betteln als schrecklich erniedrigend empfand, erschien mir das "Organisieren", also denen etwas wegnehmen, die noch genug hatten, viel ehrlicher.

Bei Kartoffeln auf dem Feld, Kohlen oder Briketts von einem Eisenbahnwagen am Bahnhof oder bei sonstigen notwendigen Dingen griff ich zu und war stolz, wenn ich meiner Mutter helfen konnte, die auch nach Kriegsende bei einem Bauern für ein Stückchen Wurst oder Butter schwer arbeitete.

Ich erhielt jede Woche ein Stück Brot, von dem ich täglich eine Scheibe von circa zwei Zentimetern abschnitt. Mehr zum Essen gab es nicht. Zwischendurch kochte die Oma eine Suppe aus Maismehl, die mir quälende Blähungen bescherte.

Die Not machte mich zum Jäger. Ich sah wie die Besatzungssoldaten Karbitflaschen in die Kinzig warfen und dort den Fischbestand brutal reduzierten, obwohl sie die Fische gar nicht so dringlich zum Leben brauchten.

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In den Jahren 1945-47 wurde ich zu jeder Tageszeit vom Hunger geplagt, der meinen Gedanken und Fantasien nur wenig Spielraum ließ. Jeder meiner Sinne war auf das Organisieren ausgerichtet.

Die nahrhafte Schokolade war wieder eine Seltenheit geworden, nachdem mein Marokkanischer Freund versetzt worden war. Von Oma und Opa konnte ich nur wenig Essbares erhalten. Gemüse, Früchte, Kartoffeln waren eine Rarität. Was Mutter für ihre Arbeit an Lebensmitteln erhielt, wurde von Woche zu Woche weniger. "Sind wir die ärmsten Leute, Mama", fragte ich sie eines Abends, als ich den Rest meines Wochenbrotes aß.

Im Herbst 1945, nachdem die Besatzungssoldaten, die in der Volksschule untergebracht waren, Hausach verlassen hatten, begann wieder der Unterricht. Auf dem Schulhof während der Pausen sah ich, wie manche Bauernsöhne mit Speck belegte Brote mit Freunden teilten. Ich wurde übersehen.

Glücklicherweise gab es später Hilfsorganisationen, die eine Schulspeisung an der Volksschule einrichteten, damit die Schäden einer Unterernährung nicht überhand nahmen.

In Hausach hatte sich ein Gesinnungswandel vollzogen. Nachdem die Nazis verschwunden waren, oder endlich zugaben, dass sie ein Opfer von Versprechungen der Propaganda geworden waren, wandten sie sich öffentlichen Aktivitäten in der Kirche zu. Die Kirche war wieder so voll, dass meine Schwester und ich unsere Lieblingsplätze hinter der Säule nie mehr frei fanden.

Digitale Bearbeitung: Bernd Schmid