"Stille Nacht" klang nie schöner als an Weihnachten 1945

Erinnerungsbericht: Lothar Sonntag, Weil 

1945 I01 Rote Bruck 2 0005kl

Die "rot Bruck" vor ihrer Sprengung. Im Hintergrund Haus Wieland. (Bild: Claudia Schmider)

Im März 1945 wurde ich zwölf Jahre alt. Die alliierten Jagdbomber, immer acht in einer Rotte, röhrten fast täglich übers Kinzigtal, um die Nachschublinien und -Züge der Deutschen Reichsbahn zu zerstören.

Die Anzahl der zerschossenen Dampf-Loks mit der Aufschrift „Räder müssen rollen für den Sieg" (Fortsetzung im Volksmund: „...und Kinderwagen für den nächsten Krieg") wurde täglich größer auf dem Rangierbahnhof. Die Bombenkrater in Bahnhofsnähe wurden zahlreicher, und die Fliegeralarm-Signale der 14- bis 16-jährigen Flakhelfer vom Schlossbergturm tönten immer häufiger.

Die jungen Krieger in HJ-Uniformen bedienten 2cm-Vierlingsflaks und 3,7 cm-Schnellfeuer-Kanonen, meines Wissens kamen sie von Mannheimer Schulen. An ein bis zwei Abschüsse kann ich mich erinnern, aber auch an verletzte Flakhelfer, die kreidebleich mit blutigen Verbänden auf einem Fahrrad sitzend ins Krankenhaus transportiert wurden. Sechs Todesopfer durch Luftangriffe waren zu verzeichnen.

Wir Buben hatten eigenhändig Splittergräben im nahen Wald ausgegraben, bei jedem Alarm flitzten wir dorthin. Da sie etwas höher als die Hausdächer lagen, sahen wir die Bombeneinschläge sehr gut.

Schulunterricht war nur noch sporadisch, in den oberen Etagen war ein Hilfslazarett eingerichtet, das Schuldach war mit dem Roten Kreuz-Zeichen markiert.

Anfangs 1945 wurden Verbände des Volkssturms aufgestellt, die nach dem Rückzug der deutschen Truppen Panzersperren an strategischen Plätzen bauten und die Bunkerbesatzung bildeten. Die Männer, kriegswichtige Landwirte oder Rüstungsarbeiter, waren zwischen 40 und 60 Jahre alt und hatten anfangs keine Uniformen, kurz vor dem Abrücken bekamen sie dann blaugraue Fliegeruniformen. Als Waffen war eine bunte Sammlung von 98k -Karabinern, belgischen und amerikanischen Beutewaffen vorhanden.

Mit der neuen Panzerfaust wurde im Wald auf einen tschechischen Panzer Probeschießen veranstaltet, diese Waffe gehörte auch zur Ausrüstung des letzten Aufgebots.

Wenn im Radio des Nachbars, dem einzigen in der Straße, Sondermeldungen angekündigt waren, wurde der Lautsprecher aufgedreht und das Fenster weit geöffnet, dass die Bewohner der Straße sie hören konnten. Es waren viele Ausgebombte von West- und Mitteldeutschen Städten hier einquartiert, außerdem wohnten fast in jedem Haus weitläufige Verwandte oder auch geflüchtete Elsässer.

Zwischen Dezember 1944 und April 1945 hörten wir oft Geschützdonner aus der Richtung Straßburg, alle möglichen Latrinenparolen machten die Runde, positive und negative. („Wunderwaffe kurz vor dem Einsatz, französische Senegalneger als Besatzung") Ende April nahm die Hektik an militärischen Bewegungen zu, und am 21. April, Mutters 43. Geburtstag, als die Franzosen aus Richtung Offenburg näher rückten, musste mein Vater mit seiner Volkssturmtruppe abrücken.

Er gab mir einen kleinen Revolver mit dem Auftrag, auf die Familie gut zu achten, besonders auf die Mutter, die beiden Brüder waren jünger als ich. Kurz vor Ankunft der fremden Truppen wurde auf dem Friedhof noch schnell eine Reihe von vier Gräbern für verstorbene russische Kriegsgefangene angelegt, die in der Rüstungsindustrie gearbeitet hatten.

Ein paar Tage später war es dann soweit: Sprengung der Kinzigbrücke B 294 morgens um 6 Uhr, Anweisung der Stadt, die Fensterläden offen zu halten und weiße Flaggen zu zeigen. Eine kleine Gruppe von Parlamentären, darunter ein französischer Zwangsarbeiter aus unserer Nachbarschaft, zogen mit weißer Flagge an die Ortsgrenze dem Feind entgegen, um ihm zu versichern, dass das Städtchen militärfrei war.

Als dann eines Samstagnachmittags eine Panzergranate in den Schlossturm krachte, wusste niemand genau, ob es der Anfang oder das Ende der Kriegshandlungen war. Gott sei Dank war das letztere der Fall in unserem Umkreis. Die Bevölkerung nebst Ostarbeitern und Kriegsgefangenen kamen aus den Luftschutzstollen, die man in den Berg getrieben hatte, oder sie verließen ihre privaten Schutzkeller, aber es war kaum jemand auf der Straße, als die Franzosen mit einigen Panzern, die Truppe hauptsächlich berittene Marokkaner mit gekreuzten Patronengurten über den Schultern, einrückten. Es war meines Wissens die 3. Algerische Division.

Die Fußtruppen führten merkwürdigerweise Spazierstöcke mit sich, was bei den Bewohnern zu einem sofortigen Respektsverlust führte („Das sind doch keine Soldaten!"). Wir bemerkten, dass manche Marokkaner bis zu vier Armbanduhren am Handgelenk trugen. Es wurden Rathaus, Villen, Wohnungen und Ställe requiriert, und somit war die Stadt besetzt. Der Stadtkommandant gab die Ausgangssperre und andere Gebote, Verbote und Bestimmungen bekannt, Bürgermeister und Hilfspolizisten wurden neu eingesetzt.

Eine Trikolore wurde auf dem Kirchplatz gehisst, dort fanden auch die Truppenappelle statt. Schon in den ersten Tagen war ich Zeuge, wie bei einem Appell mit den Kolonialtruppen umgegangen wurde: Ein französisch sprechender örtlicher Fabrikant hatte sich bei der Kommandantur beschwert, dass einige „Befreier" seine Taschenuhr und Brieftasche geraubt hätten. Er konnte sie unter den Angetretenen herausfinden, und die beiden Schuldigen wurden postwendend von der Reitpeitsche des Kommandanten bestraft und in Arrest gebracht.

Vergewaltigungsfälle bzw. -versuche in unserer Straße waren uns etwa vier bekannt, ähnliche Belästigungen von bekannten Mitschülern kenne ich zwei. Als von einem Anschlagbrett ein schriftlicher Befehl des Stadtkommandanten abgerissen wurde, mussten alle Anschlagbretter von der männlichen Bevölkerung durchgehend mehrere Tage bewacht werden.

Die Versorgung der Bevölkerung wurde immer mieser, irgendwann gab es nur noch Maisbrot, Kunsthonig und Kriegsmargarine, alles wurde knapper. Ich erinnere mich, dass eines Tages die Zuteilung von 62,5 gr. Fett oder Butter pro Person ausgerufen wurde, das war im günstigsten Fall eine Wochenration.

Wer keinen Garten oder Kleinvieh hatte oder keinen Bauern kannte, war schlecht dran, denn 50 gr. Brot war die Tagesration pro Person, eine Scheibe. Rauchwaren bzw. Zigarettenpapier waren für Zivilisten äußerst knapp. Die Raucher beschränkten sich auf Krüllschnitt Marke „Bahndamm Nr. 6" (Eigenanbau).

Ich radelte jede zweite Woche zur Drogerie im Nachbarort, um einige Schachteln Brombeerblättertee zu kaufen - mein Großvater rauchte ihn in der Pfeife. Er bemerkte, es sei immer noch besser als Nussbaumblätter.

Die nordafrikanischen Soldaten bedienten sich aus den Hühner- und Hasenställen, unsere zwei prächtigsten Langohren gingen den Weg allen Fleisches. Eines Tages klopfte ein Turban an unsere Haustüre, schnappte sich den größten Aluminiumtopf vom Herd und ging zielstrebig in den Kartoffelkeller, wo er sich bediente. Zwei Tage später brachte er den Topf zurück mit etwa 2 cm Fett und einem Hühnerbein drin. Ich sah sofort, dass es ein Teil von Nachbars prächtigen Goldwyandotten war.

Die Marokkaner hatten auch lebende Schlachttiere dabei, requirierte Schafe und Kälber. Eines Tages schächteten sie ein sehr großes graues Kalb auf dem Platz der Feldküche, wobei sie einen geschlossenen Kreis um die Prozedur bildeten. Wenn die Kolonialsoldaten einander die Köpfe rasierten, ging es ähnlich zu, kein Mädchen durfte zuschauen.

Größtes Vergnügen der Wüstensöhne war das Radfahrenlernen mit Dauergeklingel, die Räder wurden entwendet, wo immer sie auch versteckt waren. Meine Tante trauerte noch jahrelang ihrem roten NSU-Rad nach. Eine Gegenstrategie hatten wir natürlich auch gegen das Mitnehmen der Räder. Fast in jedem Haus war ein kleiner Vorrat an breitköpfigen Holzschuhnägeln, die wir an geeigneten Stellen im Fahrradtestgelände verstreuten (unauffällig mit Loch in der Hosentasche.) Platte Räder wurden dann einfach liegen gelassen, nachdem die Fahrschüler wutentbrannt auf die Sättel schlugen - wir hatten unsern Spaß und unsere Räder wieder.

Eines der ersten Gebote war das Abliefern von Schusswaffen und Stichwaffen, die in einem offenen Schuppen gelagert waren. Ein ganzer Haufen von schönen Jagdgewehren war vorhanden, wovon sich die Offiziere bedienten vor dem Abtransport. Kurzerhand bediente ich mich auch daraus, nämlich mit einem spitzen Sturmdolch, den meines Wissens Fallschirmjäger im Stiefel trugen. Den ganzen Sommer trug ich ihn links in der Hose, denn in der rechten Tasche war ja immer noch der kleine Tesching-Revolver. Die Soldaten, die gelegentlich in unsere Küche kamen, um Tee zu trinken, waren immer ein bisschen in Gefahr.

Sie brachten ihren eigenen Pfefferminztee, unser Brombeerblättergebräu wollte ihnen nicht schmecken. Einer der jüngeren Besatzer saß jeden Tag frierend an unserm Herd, es war ein Sergeant aus Tunis und er hatte Heimweh. Als meine Mutter merkte, dass ich (zu ihrem Schutz) immer noch bewaffnet war, drängte sie mich, das gefährliche Ding loszuwerden, denn auf den Besitz stand Todesstrafe. So versteckte ich es im nahen Wald, denn im Juli hatte ich noch Großvaters 9mm-Flobertgewehr auf das Rathaus getragen, das plötzlich hinter einem alten Schrank herausfiel.

Unsere Kleidung sah ziemlich dürftig aus, kurze Hosen aus gefärbtem Uniformstoff, der ziemlich rau war und die Haut an den Oberschenkeln aufscheuerte. Barfuss laufen oder genagelte Holzschuhe waren die Alternative, die holzwolle-ähnliche Sockenwolle kratzte fürchterlich.

Beerensammeln und Forellenfangen waren normal, um den spärlichen Speiseplan zu verbessern, ebenso gelegentliches Mitarbeiten in der Landwirtschaft gegen Naturalien. Bei meinem Friseur hing ein Zettel am großen Spiegel: „Prie d’apporter votre savon a barbe", „bringen sie ihre eigene Rasierseife mit"!

Mittlerweile war auch wieder der Schulbetrieb aufgenommen, nachdem die französische Einquartierung weiter gezogen war. In der höheren Schule wurde neben Englisch auch Französischunterricht gegeben, und da wir schnell lernten, kam es uns zu Gute, wenn wir mit den Besatzungsfrauen parlierten, die vom économat francais kamen mit Taschen voller Lebensmittel. Da war immer mal eine Stange Weißbrot für uns drin, wenn wir ihnen beim Tragen halfen. Die netteste unter ihnen war Mme. Lestrihaut, die mit ihrem Mann, einem sehr höflichen Offizier, bei meiner Tante einquartiert war. Sie war nicht nur eine junge, hübsche Provencalin, die jeden Tag Lippenstift trug, sondern auch sehr freigebig.

Nicht nur frisch geröstete Kaffeebohnen, auch andere lang entbehrte Kostbarkeiten wie Zahnpasta oder Zahnseife in kleinen flachen Dosen oder französische Seife verschenkte sie, zu meinem Erstaunen sah ich einmal, wie sie auf Tantes Küchenherd ein halbes Pfund Butter in die Pfanne haute für ein Eintopfessen. Das war für unsere Familie etwa eine Monatsration.

Die farbigen Besatzer mit ihren schönen Araberpferden waren mittlerweile weiter gezogen in Richtung Bodensee, wo sie in einem Gefecht bei Mauenheim unsere Volkssturmverteidiger überrannten. Von seiner Gruppe verlor mein Vater seinen älteren Bruder und einen guten Freund von etwa 55 Jahren, er selbst wurde verletzt und gab Nachricht durch einen Boten vom Immendinger Lazarett.

Irgendwann nach dem Waffenstillstand fuhr der Sultan von Marokko zur Siegesparade bzw. zum Truppenbesuch von Strassburg nach Villingen. Im Höllentempo raste die Limousinenkolonne durch die salutierenden Besatzer, an der Spitze Kreiskommandant de la Brosse, gesehen hat man nicht mehr als ein paar weiß beturbante Gestalten („verschleiert wiä en alt Wiib", sagte meine Tante).

In den verlassenen Stellungen rund um den Bahnhof lag immer noch genügend Flak-Munition zum Spielen. Den 3,8 cm-Granaten wurden das Projektil heraus gebrochen, die Pulverladungen auf einen Haufen geschüttet und angezündet. Manche Buben waren nicht schnell genug beim Weglaufen und verbrannten sich das Fell, einer meiner Klassenkameraden kam ohne Haare in die Schule, ein anderer überlebte die Explosion nicht.

Unsere alten Fahrräder hatten zum Teil vierkantige Vollgummireifen, auf denen wir zur Schule hoppelten.

Der Klassenlehrer kam nicht mehr mit Reithose und Wehrmachtstiefeln in die Schule, sondern in Zivil, und der 71-jährige Biologielehrer Prof. Fleig kehrte wieder nach Frankfurt zurück.

Im Laufe des Sommers waren die meisten Ostarbeiter (Stoffzeichen „OST" am Revers oder „P" für Pole) in ihre Heimat zurücktransportiert worden, nur eine Gruppe Polen trieb ihr Unwesen im Kreis Wolfach, indem sie bewaffnet Vieh raubten, mindestens einen der sich wehrenden Bauern erschossen oder anderweitig Bürger belästigten.

Mit den Nachschubzügen kamen auch französische Eisenbahner in den Ort, Monsieur Henri Rollot wurde bei uns einquartiert. Ein grauhaariger angenehmer Zeitgenosse, der meine französischen Hausaufgaben kontrollierte. Eines Tages fand sogar ein Fußballspiel zwischen den Besatzungstruppen und dem örtlichen Kickermannschaft statt, welches die ersteren haushoch gewannen.

Es kam zu einigen Fällen von Liaison, zwei mir bekannte Mädchen heirateten Franzosen und zogen weg.

Am 14. Juli war Nationalfeiertag mit kleiner Parade und großem Ball für die Gallier.Nach und nach kamen die ersten Kriegsgefangenen nach Hause, gleichzeitig mit einer neuen Welle von Besatzern mit Familien.

Mit denen war nicht gut Kirschen essen, die unangenehmsten Typen, die voller Hass waren.

„Sale Bôche" war die übliche Anrede, anspucken und beschimpfen ebenso häufig. Ihre Kinder waren bei uns in der Volksschule, es gab immer Schwierigkeiten mit den ordinären Burschen. („manger ma culotte" und ähnliche Liebenswürdigkeiten)

Gegen Herbst war Tannenzapfensammeln die Hauptaufgabe für uns Kinder, ebenso Haselnüsse ernten und Bucheckern zur Speiseölgewinnung, denn die Fettzuteilung war immer noch zu knapp.Wir waren fast jeden Tag im Wald, fällten illegal dürre Bäumchen und sammelten Pilze. Ährenlesen kam wieder in Mode, Tauschhandel mit den Bauern war gang und gäbe.

Gelegentlich trafen wir im Wald entlaufene deutsche Kriegsgefangene auf der Flucht, die sich mit allerlei Werkzeug als Waldarbeiter kostümiert hatten. Sie waren meistens auf dem Weg nach Osten. Gegen Herbst wurden die Krieger-Gedenkgottesdienste seltener, wir lernten französische Weihnachtslieder- und Gedichte, die Weihnachtsbescherung war nicht nennenswert, außer selbst gefertigten Kleidern,

Strickwaren oder Spielzeug gab es nichts, Kerzen waren knapp und Plätzchen ebenfalls. Aber die erste Friedens-Christmette in der Kirche war ein echtes Erlebnis, alle waren froh, dass die böse Zeit vorbei war.

Nie mehr hat „Stille Nacht" schöner geklungen als 1945.

Mein Vater kam nach zwei Wochen Kriegseinsatz und drei Jahren französischer Gefangenschaft im Elsass wieder nach Hause.

Digit.Bearbeitung: Bernd Schmid